Szene VII
 
 
Nr. 5 Chor
 
 
 
 
Naher Chor
 
 
 
 
Gnade, o Götter, Gnade!
 
 
Hilfe, o gerechte Götter,
 
 
wendet zu uns eure Blicke…
 
 
Ferner Chor
 
 
 
 
Gnade, o Götter, Gnade!
 
 
Der Himmel, das Meer, der Wind
 
 
unterdrücken uns durch Schrecken…
 
 
Naher Chor
 
 
 
 
Gnade, o Götter, Gnade!
 
 
In die Arme des grausamen Todes
 
 
Stößt uns das verhängnisvolle Geschick…
 
 
Chor
 
 
 
 
Gnade, o Götter, Gnade!
 
 
Szene VIII
 
 
Pantomime
 
 
[Neptun erscheint auf dem Meere. ][Er gibt den Winden ein Zeichen, sich in ihre Höhlen zurückzuziehen. Das Meer beruhigt sich nach und nach. Als IDOMENEO den Gott des Meeres erblickt, ruft er seine Macht an.][ Neptun wirft ihm finstere und drohende Blicke zu, taucht in die Wellen und verschwindet.]
 
 
Rezitativ
 
 
[Idomeneo mit Gefolge.]
 
 
Idomeneo
 
 
[zu seinem Gefolge.]
 
 
Endlich sind wir gerettet. O ihr,
 
 
beim Wüten von Mars und Neptun,
 
 
bei Sieg und Not
 
 
treue Gefährten,
 
 
lasst mich hier für eine Weile
 
 
allein aufatmen und dem heimatlichen Himmel
 
 
meine erlittene Mühsal anvertrauen.
 
 
Szene IX
 
 
[(Das Gefolge zieht sich zurück, und] Idomeneo [begibt sich nachdenklich] allein [zum Strand)].
 
 
Still ist das Meer, liebliche Lüfte strömen
 
 
süße Ruhe aus, und die himmelblauen Ufer
 
 
vergoldet der blonde Gott. Wohin immer ich blicke,
 
 
alles ruht in Frieden und genießt.
 
 
Ich allein, ich allein an diesen dürren Stränden,
 
 
von Mühen und Entbehrung entkräftet,
 
 
kann in mir, o Neptun, diese Ruhe nicht fühlen,
 
 
die ich von deinem Reich erflehte.
 
 
Inmitten von Wogen und Klippen
 
 
durch deinen Zorn verführt, erbat ich Rettung von dir
 
 
vor dem Untergang, und voll Angst
 
 
versprach ich deinen Altären
 
 
als Opfer den ersten Sterblichen,
 
 
der hier in der Nähe unglücklich umherirrt.
 
 
Durch dieses grausame Gelübde
 
 
bin ich hier in Sicherheit, ja gewiss, aber ohne Frieden…
 
 
Doch sind wohl dies – o Gott! – die teuren Mauern,
 
 
wo ich den ersten Hauch des Lebens einsog?
 
 
Fern seit so langer Zeit, ach, mit welchen Gefühlen
 
 
werde ich euch jetzt wiedersehen, da ich, kaum in euerem Schoß
 
 
empfangen, einen armen Unschuldigen
 
 
werde töten müssen…
 
 
O törichtes, grässliches Gelübde!
 
 
Grausamer Schwur! Ach, welcher der Götter
 
 
erhält mich noch am Leben,
 
 
oder welcher von euch bietet mir wenigstens Hilfe dar?
 
 
Nr. 6 Arie
 
 
Idomeneo
 
 
Mich wird er umschweben
 
 
der traurige Schatten,
 
 
der mir nachts und tags:
 
 
"Ich bin unschuldig"
 
 
andeuten wird.
 
 
In der durchbohrten Brust,
 
 
im verbluteten Körper
 
 
wird er mir mein Verbrechen,
 
 
das vergossene Blut
 
 
mit dem Finger zeigen.
 
 
Welch ein Schrecken!
 
 
Was für Schmerzen!
 
 
Vor Qualen
 
 
dieses Herz,
 
 
wie oft
 
 
wird es sterben!
 
 
[erblickt einen Mann, der sich nähert.]
 
 
Rezitativ
 
 
Idomeneo
 
 
Himmel! Was sehe ich? Da, das unglückliche
 
 
Opfer – weh mir! – es naht…
 
 
Ach, welchen Schmerz
 
 
zeigt dieses Antlitz! Mein Blut erstarrt…
 
 
ich bebe vor Entsetzen… Und es wäre euch willkommen, o Götter,
 
 
erscheint euch gerecht
 
 
ein unschuldiges, menschliches Opfer?…
 
 
Und diese Hände
 
 
werden die Vollstrecker sein?… Verwünschte Hände!
 
 
Grausame, ungerechte Götter! Abscheuliche Altäre!
 
 
Szene X
 
 
Idomeneo, Idamantes abseits.
 
 
Idamantes
 
 
Einsame Ufer und ihr, steile Felsen,
 
 
seid Zeugen meines Schmerzes und gewähret
 
 
euren Unterschlupf
 
 
einem erregten Herz… wie spiegelt ihr, einsames Grauen,
 
 
die Härte meines Schicksals wider!…
 
 
Ich sehe zwischen den Resten
 
 
zertrümmerter Schiffe an diesem Strande
 
 
einen unbekannten Krieger… Ich will ihn anhören,
 
 
will ihn trösten und will
 
 
in Freude seinen Schmerz verwandeln.
 
 
[nähert sich Idomeneo und spricht zu ihm.]
 
 
Fürchte dich nicht, o Krieger, wer du auch seist.
 
 
Sieh hier zu deiner Hilfe einen bereit,
 
 
der sie dir in dieser Gegend anbieten kann.
 
 
Idomeneo
 
 
 
 
(Je mehr ich ihn ansehe,
 
 
um so mehr verzehrt mich der Schmerz.)
 
 
[zu Idamantes.]
 
 
Den Rest meiner Tage
 
 
schulde ich dir. Welchen Lohn
 
 
wirst du von mir empfangen?
 
 
Idamantes
 
 
Lohn für mein Herz wird es sein,
 
 
dich gerettet,
 
 
beschützt zu haben: Ach, allzu sehr, Freund,
 
 
hat mich mein Unglück gelehrt,
 
 
mit dem Unglück anderer Mitleid zu haben.
 
 
Idomeneo
 
 
 
 
(Was für eine Stimme, welch Mitleid durchbohrt meine Brust!)
 
 
[zu Idamantes.]
 
 
Unglücklich du? Was sagst du?… Kennst du
 
 
dein Unglück in seiner ganzen Tragweite?
 
 
Idamantes
 
 
Der teuerste Gegenstand meiner Liebe
 
 
– o Himmel! –
 
 
überquerte die Welle des Kokytos. Der in Kriegsdingen so berühmte König,
 
 
die Geißel seiner Feinde, der Abgott
 
 
seines Hofes,
 
 
der Schrecken und die Liebe der ganzen Welt,
 
 
von ungerechten Göttern verfolgt, unterdrückt
 
 
– und siehe nun, ob mein Schmerz gerecht ist –
 
 
von der Wut der Wellen…
 
 
Idomeneo
 
 
[weint und seufzt.]
 
 
Ah, grausamer Zufall!
 
 
Idamantes
 
 
In diese Abgründe gestoßen,
 
 
ruht der tote Held Idomeneo.
 
 
Aber du seufzt und weinst?
 
 
Ist dir Idomeneo bekannt?
 
 
Idomeneo
 
 
Es gibt keinen
 
 
bedauernswerteren Menschen als ihn, niemand vermag
 
 
sein schweres Schicksal zu lindern.
 
 
Idamantes
 
 
Was redest du?
 
 
Lebt er noch?
 
 
 
 
(O Götter! Ich hoffe wieder.)
 
 
 
 
Ah, sage mir, Freund, sage mir:
 
 
Wo ist er? Wo wird sein süßer Anblick
 
 
das Leben mir wiedergeben?
 
 
Idomeneo
 
 
Aber woher kommt
 
 
diese Zartheit der Liebe,
 
 
die du für ihn hegst?
 
 
Idamantes
 
 
Könnte ich wenigstens
 
 
ihm selbst meine Gefühle zeigen!
 
 
Die berühmten Taten, dank derer Griechenland sich
 
 
vor jenem erlauchten Namen
 
 
mit Ehrfurcht beugt,
 
 
waren Ansporn für mein Herz.
 
 
Ah, warum konnte ich nicht, trotz Todesgefahr, dort auf den trojanischen Feldern,
 
 
als er Lorbeeren und Trophäen sammelte,
 
 
da ich schon Zeuge seiner Tapferkeit gewesen bin,
 
 
auch seines großen Ruhmes teilhaftig werden?
 
 
Idomeneo
 
 
Edler Mut. O Leben,
 
 
das würdig ist, dass es der Himmel
 
 
mit Ruhm und Glanz krönt!
 
 
 
 
Doch dieses Antlitz
 
 
ist mir nicht ganz fremd; irgend etwas
 
 
erkenne ich an diesem…
 
 
Idamantes
 
 
 
 
(Nachdenklich heftet er den traurigen Blick
 
 
auf mich… und doch durch diese Stimme,
 
 
dieses Antlitz und diese Bewegung erinnert mich der Mann
 
 
an einen, der mir entweder am Hofe oder im Felde bekannt und befreundet war.)
 
 
Idomeneo
 
 
Du überlegst?
 
 
Idamantes
 
 
Du betrachtest mich und schweigst.
 
 
Idomeneo
 
 
Warum verwirrt mich dein Reden so?
 
 
Idamantes
 
 
Und was für eine Verwirrung fühle auch ich
 
 
in meiner Seele?… Ach, ich kann
 
 
die Tränen nicht mehr zurückhalten…
 
 
[weint.]
 
 
Idomeneo
 
 
Aber sage: Welcher Quelle
 
 
entspringen solche Tränen? Und dieser so bittere Schmerz,
 
 
der dich um Idomeneo so trauern lässt…
 
 
Idamantes
 
 
[mit Nachdruck.]
 
 
Ah, er ist doch der Vater…
 
 
Idomeneo
 
 
[unterbricht ihn ungeduldig.]
 
 
(O Gott!)
 
 
Sprich: Wessen Vater ist er?
 
 
Idamantes
 
 
[mit schwacher Stimme.]
 
 
Er ist mein Vater!
 
 
Idomeneo
 
 
 
 
Erbarmungslose Götter!…
 
 
Idamantes
 
 
Mit mir beweinst du
 
 
das Schicksal meines Vaters?…
 
 
Idomeneo
 
 
[schmerzlich.]
 
 
Ah, Sohn!…
 
 
Idamantes
 
 
[sehr heiter.]
 
 
Ah, Vater! Ah, Götter!
 
 
Wo bin ich? Oh, welche Wonne!… Dulde es,
 
 
geliebter Vater, dass an deiner Brust…
 
 
[will ihn umarmen.]
 
 
und eine Umarmung…
 
 
[Der Vater wendet sich verstört ab.]
 
 
Weh mir! Warum zürnst du?…
 
 
Fliehst mich verzweifelt?… Ach wohin, ach wohin?
 
 
Idomeneo
 
 
Folge mir nicht, ich verbiete es dir:
 
 
Für dich wäre es besser, du hättest mich
 
 
jetzt hier nicht erblickt.
 
 
Fürchte es, mich wiederzusehen.
 
 
[geht eilends ab.]
 
 
Idamantes
 
 
Ah, welch eisiger Schrecken trübt meine Sinne!…
 
 
Kaum erblicke ich ihn, erkenne ihn,
 
 
da entflieht er im Nu meinen zärtlichen Worten.
 
 
Ich Armer! Womit habe ich ihn beleidigt und wieso
 
 
verdiente ich diesen Zorn, diese Drohungen?…
 
 
Ich will ihm folgen und sehen – o hartes Schicksal! –
 
 
was für ein noch größeres Unheil mir bevorsteht.
 
 
Nr. 7 Arie
 
 
Idamantes
 
 
Den geliebten Vater
 
 
finde ich wieder und verliere ihn.
 
 
Er flieht mich erzürnt,
 
 
schaudernd vor Entsetzen.
 
 
Ich meinte zu sterben
 
 
vor Freude und Liebe:
 
 
Jetzt – grausame Götter! –
 
 
tötet mich der Schmerz.
 
 
[geht schmerzerfüllt ab.]
 
 
[Ende des ersten Aktes.]