ERSTER AKT
 
 
Die Gemächer Ilias im königlichen Palast. Im Hintergrund der Bühne eine Galerie.
 
 
Szene I
 
 
Ilia allein.
 
 
Rezitativ
 
 
Ilia
 
 
Wann werden
 
 
meine bitteren Leiden jemals enden?…
 
 
Unglückliche Ilia,
 
 
elender Überrest des grausamen Sturms,
 
 
des Vaters und der Brüder beraubt,
 
 
großmütige Opfer
 
 
des grausamen Feindes,
 
 
mit dessen Blut sie ihr Blut vermengten:
 
 
Für welch härteres Geschick
 
 
noch bewahren dich die Götter?…
 
 
Ihr habt doch
 
 
des Priamos Verluste und die Schande Trojas gerächt?
 
 
Die griechische Flotte versank, und Idomeneo
 
 
diente vielleicht dem gierigen Wale zum Fraß…
 
 
Doch was nützt es mir – o Himmel! – wenn ich beim ersten Anblick
 
 
dieses tapferen Idamantes,
 
 
der mich den Wellen entriss, dem Hass entsagte,
 
 
und das Herz zum Sklaven wurde, ehe ich es gewahrte,
 
 
dass ich gefangen war.
 
 
Ach, welch ein Widerstreit – o Gott! – der gegensätzlichen Gefühle
 
 
erweckt Ihr, Hass und Liebe, in meiner Brust!…
 
 
Rache schulde ich dem, der mir das Leben gab,
 
 
Dankbarkeit dem, der mir das Leben wieder gibt…
 
 
Ach Ilia, ach Vater, ach Prinz, ach Schicksal!
 
 
Ach elendes Leben, ach süßer Tod!
 
 
Doch wie? Liebt mich Idamantes?… Ach nein, der Undankbare
 
 
sehnt sich nach Elektra, und diese Elektra,
 
 
armselige Prinzessin, aus Argo verbannt,
 
 
vor Orestes Unheil an diesen Strand
 
 
entflohen und umherirrend, ist meine Rivalin.
 
 
Wie viele seid ihr um mich herum,
 
 
unbarmherzige Henker?… Nur zu, zerfleischt,
 
 
Rache, Eifersucht, Hass und Liebe,
 
 
zerfleischt doch dies unglückliche Herz!
 
 
Nr. 1 Arie
 
 
Ilia
 
 
Vater, Brüder, lebet wohl!
 
 
Ihr seid dahin, ich habe euch verloren.
 
 
Griechenland, du bist daran Schuld.
 
 
Und doch werde ich einen Griechen lieben?
 
 
Undankbar meinem Blute
 
 
weiß ich, dass ich schuldig würde,
 
 
doch dieses Antlitz – o Götter! –
 
 
vermag ich noch nicht zu hassen.
 
 
Rezitativ
 
 
Ilia
 
 
Hier ist Idamantes, weh mir!
 
 
Er kommt hier. Armes Herz,
 
 
du bebst und bangst.
 
 
Ach, endet für eine Weile, o meine Qualen!
 
 
Szene II
 
 
Idamantes, Ilia. Gefolge des Idamantes.
 
 
Rezitativ
 
 
Idamantes
 
 
[zum Gefolge.]
 
 
Versammelt die Trojaner, geht, und der Hof
 
 
sei bereit, diesen Tag zu feiern.
 
 
[zu Ilia.]
 
 
In einem Strahl süßer Hoffnung
 
 
schwindet mein Schmerz. Minerva, Griechenlands
 
 
Beschützerin, entriss dem Toben der Wellen
 
 
meinen Vater. Auf dem Meere nicht weit von hier
 
 
erschienen seine Schiffe. Arbaces, suche
 
 
die Stelle, die uns
 
 
des königlichen Anblicks beraubt.
 
 
Ilia
 
 
[ironisch.]
 
 
Fürchte nichts: Von Minerva beschützt
 
 
ist Griechenland, und der ganze Zorn der Götter hat sich
 
 
schon längst über die Trojaner ergossen.
 
 
Idamantes
 
 
Beklage nicht mehr das Schicksal der Trojaner:
 
 
Der Sohn wird alles für sie tun,
 
 
was der Vater und jeder andere
 
 
großmütige Sieger tun würde. Sieh,
 
 
Prinzessin, ihre Leiden sollen ein Ende haben:
 
 
Ich gebe ihnen die Freiheit wieder, und unter uns
 
 
soll als Gefangener nur der bleiben, nur der, der die teuren Fesseln trägt,
 
 
die deine Schönheit band.
 
 
Ilia
 
 
Herr, was höre ich? Haben
 
 
den Hass und Zorn der unerbittlichen Götter
 
 
die nun gestürzten, ruhmreichen Mauern Ilions
 
 
noch nicht befriedigt, ach, keine Mauern mehr,
 
 
sondern eine breite und weite Ebene? Zu ewigen Tränen
 
 
sind unsere müden Augen verdammt?
 
 
Idamantes
 
 
Venus hat uns bestraft, sie siegt über uns.
 
 
Wie viel hat mein Vater – weh, welch Erinnerung! –
 
 
inmitten der Fluten erlitten? Agamemnon,
 
 
am Ende ein Opfer in Argos, hat einen hohen Preis
 
 
für seine Trophäen bezahlt, und, noch nicht zufrieden
 
 
mit so vielem Blutvergießen, was tat die feindliche Göttin?
 
 
Mein Herz durchbohrte
 
 
sie, Ilia, mit deinen schönen Augen,
 
 
die mächtiger sind als die ihren;
 
 
und an mir rächt sie nun deine Leiden.
 
 
Ilia
 
 
Was sagst du?
 
 
Idamantes
 
 
Ja, Kythereas Sohn
 
 
hat unbekannte Qualen
 
 
in meine Brust eingeflößt; dir brachte Mars Tränen und Schrecken,
 
 
Rache suchte Amor
 
 
bei mir für deine Schmerzen, diese lieblichen Augen,
 
 
deine Anmut benützte er… aber zu meiner Liebe
 
 
errötest du vor Zorn und Scham?
 
 
Ilia
 
 
Aus diesen Wörtern
 
 
spricht eine verwegene Kühnheit, die ich schwer ertragen kann.
 
 
Ach, bedenke, bedenke, Idamantes, – o Gott! –
 
 
wer dein Vater ist und wer der meine war.
 
 
Nr. 2 Arie
 
 
Idamantes
 
 
Ich trage keine Schuld, doch du verdammst mich,
 
 
meine Angebetete, weil ich dich liebe.
 
 
Ihr tragt die Schuld, o tyrannische Götter,
 
 
und ich sterbe vor Kummer
 
 
für einen Fehler, der nicht der meine ist.
 
 
Wenn du es wünschest, deinem Befehle
 
 
werde ich meine Brust öffnen.
 
 
In deinen Augen lese ich es zwar,
 
 
doch auch deine Lippen sollen es sagen,
 
 
einen anderen Dank begehre ich nicht.
 
 
Rezitativ
 
 
Ilia
 
 
[sieht, wie die Gefangenen gebracht werden.]
 
 
Sieh den elenden Rest der Trojaner,
 
 
dem feindlichen Wüten entronnen.
 
 
Idamantes
 
 
Nun werde ich ihre Fesseln
 
 
brechen, ich will sie sogleich trösten.
 
 
 
 
(Ach! Warum kann ich das nicht für mich selbst tun!)
 
 
Szene III
 
 
[Idamantes, Ilia.] Die gefangenen Trojaner, Männer und Frauen aus Kreta.
 
 
Idamantes
 
 
Löset die Fesseln,
 
 
[Man nimmt den Gefangenen die Fesseln ab; sie zeigen sich dankbar.]
 
 
heute,
 
 
o treues und uns ergebenes Kydonia,
 
 
erblicke die Welt zwei ruhmreiche
 
 
Völker mit zarten Banden verbunden und
 
 
in vollkommener Freundschaft vereint.
 
 
Helena bewaffnete Griechenland und Asien, und nun
 
 
entwaffnet und vereint
 
 
diese junge Heldin, die lieblichste und schönste Prinzessin,
 
 
Asien und Griechenland.
 
 
Nr. 3 Chor
 
 
Chor der Trojaner und Kreter
 
 
Alle
 
 
Lasst uns den Frieden genießen,
 
 
es siege Amor:
 
 
Nun wird jedes Herz
 
 
jubilieren.
 
 
Zwei Kreter
 
 
Dank sei dem,
 
 
der die Fackel des Krieges löschte:
 
 
Jetzt wird die Erde wahrhaft
 
 
zur Ruhe gelangen.
 
 
Alle
 
 
Lasst uns den Frieden genießen,
 
 
es siege Amor:
 
 
Nun wird jedes Herz
 
 
jubilieren.
 
 
Zwei Trojaner
 
 
Euch,
 
 
barmherzige Götter,
 
 
und diesen schönen Augen
 
 
verdanken wir die Freiheit.
 
 
Alle
 
 
Genießet den Frieden,
 
 
es siege Amor:
 
 
Nun wird jedes Herz
 
 
jubilieren.
 
 
Szene IV
 
 
Elektra und die Vorigen.
 
 
Rezitativ
 
 
Elektra
 
 
[von Eifersucht erregt.]
 
 
Prinz, Herr, ganz Griechenland beleidigst du:
 
 
Du beschützt den Feind.
 
 
Idamantes
 
 
Es mag Griechenland genügen,
 
 
den Feind besiegt zu sehen. Man sei darauf gefasst,
 
 
etwas zu bewundern, das meiner würdiger ist, o Prinzessin:
 
 
Man sehe den Besiegten glücklich.
 
 
[sieht Arbaces kommen.]
 
 
Arbaces kommt.
 
 
Szene V
 
 
Arbaces und die Vorigen. [Arbaces ist traurig.]
 
 
[befangen.]
 
 
Aber was verkünden diese Tränen?
 
 
Arbaces
 
 
Mein Herr,
 
 
das schrecklichste aller Übel…
 
 
Idamantes
 
 
[beunruhigt.]
 
 
Lebt mein Vater
 
 
nicht mehr?
 
 
Arbaces
 
 
Er lebt nicht mehr: Was Mars
 
 
bisher nicht vermochte, vollbrachte Neptun,
 
 
der unerbittliche Gott,
 
 
und soeben erfahre ich, dass der Würdigste der Helden,
 
 
nahe einer fremden Küste
 
 
versinkend, starb.
 
 
Idamantes
 
 
Ilia, unter den Lebenden sieh hier
 
 
den Elendsten.
 
 
Nun wirst du mit dem Himmel
 
 
zufrieden sein…
 
 
grausames Schicksal!…
 
 
Man eile zum Strande… Weh mir! Ich bin verzweifelt!
 
 
geht ab.
 
 
Ilia
 
 
Asiens Verwüstung
 
 
fühle ich noch zu sehr, und doch scheint mein Herz
 
 
vom Namen, vom Los eines großen Helden berührt zu sein,
 
 
und ach, ich kann ihm mein Mitleid nicht versagen.
 
 
geht [seufzend] ab.
 
 
Szene VI
 
 
Elektra allein.
 
 
Elektra
 
 
Idomeneo ist tot?… Alles ist gegen mich,
 
 
alles verschwört der Himmel gegen mich. Kann Idamantes
 
 
nach seinem Belieben
 
 
über ein Reich und ein Herz verfügen, und mir bleibt
 
 
kein Schatten einer Hoffnung?…
 
 
Zu meinem Verdruß – weh mir! –
 
 
werde ich sehen, und Griechenland wird es zu einer großen Schande sehen,
 
 
dass eine trojanische Sklavin Thron
 
 
und Brautbett mit ihm teilt…
 
 
Vergebens, Elektra,
 
 
liebst du den Undankbaren… und soll
 
 
die Tochter eines Königs, der Vasallen hat, es dulden,
 
 
dass eine niedere Sklavin das hohe Ziel erstrebt?…
 
 
O Zorn! O Raserei! O Schmerz!… Ich ertrage es nicht mehr.
 
 
Nr. 4 Arie
 
 
Elektra
 
 
Euch alle fühle ich im Herzen,
 
 
Furien des dunklen Hades;
 
 
fern von so großem Leiden
 
 
fühle ich Liebe, Dank und Erbarmen.
 
 
Wer mir dieses Herz raubte,
 
 
das das meine verraten hat,
 
 
soll von meinem Wüten fühlen
 
 
Rache und Grausamkeit.
 
 
[geht ab.]
 
 
[Strände vor dem immer noch bewegten Meer, von Felsen umgeben. Schiffswracks am Ufer.]
 
 
Szene VII
 
 
Nr. 5 Chor
 
 
 
 
Naher Chor
 
 
 
 
Gnade, o Götter, Gnade!
 
 
Hilfe, o gerechte Götter,
 
 
wendet zu uns eure Blicke…
 
 
Ferner Chor
 
 
 
 
Gnade, o Götter, Gnade!
 
 
Der Himmel, das Meer, der Wind
 
 
unterdrücken uns durch Schrecken…
 
 
Naher Chor
 
 
 
 
Gnade, o Götter, Gnade!
 
 
In die Arme des grausamen Todes
 
 
Stößt uns das verhängnisvolle Geschick…
 
 
Chor
 
 
 
 
Gnade, o Götter, Gnade!
 
 
Szene VIII
 
 
Pantomime
 
 
[Neptun erscheint auf dem Meere. ][Er gibt den Winden ein Zeichen, sich in ihre Höhlen zurückzuziehen. Das Meer beruhigt sich nach und nach. Als IDOMENEO den Gott des Meeres erblickt, ruft er seine Macht an.][ Neptun wirft ihm finstere und drohende Blicke zu, taucht in die Wellen und verschwindet.]
 
 
Rezitativ
 
 
[Idomeneo mit Gefolge.]
 
 
Idomeneo
 
 
[zu seinem Gefolge.]
 
 
Endlich sind wir gerettet. O ihr,
 
 
beim Wüten von Mars und Neptun,
 
 
bei Sieg und Not
 
 
treue Gefährten,
 
 
lasst mich hier für eine Weile
 
 
allein aufatmen und dem heimatlichen Himmel
 
 
meine erlittene Mühsal anvertrauen.
 
 
Szene IX
 
 
[(Das Gefolge zieht sich zurück, und] Idomeneo [begibt sich nachdenklich] allein [zum Strand)].
 
 
Still ist das Meer, liebliche Lüfte strömen
 
 
süße Ruhe aus, und die himmelblauen Ufer
 
 
vergoldet der blonde Gott. Wohin immer ich blicke,
 
 
alles ruht in Frieden und genießt.
 
 
Ich allein, ich allein an diesen dürren Stränden,
 
 
von Mühen und Entbehrung entkräftet,
 
 
kann in mir, o Neptun, diese Ruhe nicht fühlen,
 
 
die ich von deinem Reich erflehte.
 
 
Inmitten von Wogen und Klippen
 
 
durch deinen Zorn verführt, erbat ich Rettung von dir
 
 
vor dem Untergang, und voll Angst
 
 
versprach ich deinen Altären
 
 
als Opfer den ersten Sterblichen,
 
 
der hier in der Nähe unglücklich umherirrt.
 
 
Durch dieses grausame Gelübde
 
 
bin ich hier in Sicherheit, ja gewiss, aber ohne Frieden…
 
 
Doch sind wohl dies – o Gott! – die teuren Mauern,
 
 
wo ich den ersten Hauch des Lebens einsog?
 
 
Fern seit so langer Zeit, ach, mit welchen Gefühlen
 
 
werde ich euch jetzt wiedersehen, da ich, kaum in euerem Schoß
 
 
empfangen, einen armen Unschuldigen
 
 
werde töten müssen…
 
 
O törichtes, grässliches Gelübde!
 
 
Grausamer Schwur! Ach, welcher der Götter
 
 
erhält mich noch am Leben,
 
 
oder welcher von euch bietet mir wenigstens Hilfe dar?
 
 
Nr. 6 Arie
 
 
Idomeneo
 
 
Mich wird er umschweben
 
 
der traurige Schatten,
 
 
der mir nachts und tags:
 
 
"Ich bin unschuldig"
 
 
andeuten wird.
 
 
In der durchbohrten Brust,
 
 
im verbluteten Körper
 
 
wird er mir mein Verbrechen,
 
 
das vergossene Blut
 
 
mit dem Finger zeigen.
 
 
Welch ein Schrecken!
 
 
Was für Schmerzen!
 
 
Vor Qualen
 
 
dieses Herz,
 
 
wie oft
 
 
wird es sterben!
 
 
[erblickt einen Mann, der sich nähert.]
 
 
Rezitativ
 
 
Idomeneo
 
 
Himmel! Was sehe ich? Da, das unglückliche
 
 
Opfer – weh mir! – es naht…
 
 
Ach, welchen Schmerz
 
 
zeigt dieses Antlitz! Mein Blut erstarrt…
 
 
ich bebe vor Entsetzen… Und es wäre euch willkommen, o Götter,
 
 
erscheint euch gerecht
 
 
ein unschuldiges, menschliches Opfer?…
 
 
Und diese Hände
 
 
werden die Vollstrecker sein?… Verwünschte Hände!
 
 
Grausame, ungerechte Götter! Abscheuliche Altäre!
 
 
Szene X
 
 
Idomeneo, Idamantes abseits.
 
 
Idamantes
 
 
Einsame Ufer und ihr, steile Felsen,
 
 
seid Zeugen meines Schmerzes und gewähret
 
 
euren Unterschlupf
 
 
einem erregten Herz… wie spiegelt ihr, einsames Grauen,
 
 
die Härte meines Schicksals wider!…
 
 
Ich sehe zwischen den Resten
 
 
zertrümmerter Schiffe an diesem Strande
 
 
einen unbekannten Krieger… Ich will ihn anhören,
 
 
will ihn trösten und will
 
 
in Freude seinen Schmerz verwandeln.
 
 
[nähert sich Idomeneo und spricht zu ihm.]
 
 
Fürchte dich nicht, o Krieger, wer du auch seist.
 
 
Sieh hier zu deiner Hilfe einen bereit,
 
 
der sie dir in dieser Gegend anbieten kann.
 
 
Idomeneo
 
 
 
 
(Je mehr ich ihn ansehe,
 
 
um so mehr verzehrt mich der Schmerz.)
 
 
[zu Idamantes.]
 
 
Den Rest meiner Tage
 
 
schulde ich dir. Welchen Lohn
 
 
wirst du von mir empfangen?
 
 
Idamantes
 
 
Lohn für mein Herz wird es sein,
 
 
dich gerettet,
 
 
beschützt zu haben: Ach, allzu sehr, Freund,
 
 
hat mich mein Unglück gelehrt,
 
 
mit dem Unglück anderer Mitleid zu haben.
 
 
Idomeneo
 
 
 
 
(Was für eine Stimme, welch Mitleid durchbohrt meine Brust!)
 
 
[zu Idamantes.]
 
 
Unglücklich du? Was sagst du?… Kennst du
 
 
dein Unglück in seiner ganzen Tragweite?
 
 
Idamantes
 
 
Der teuerste Gegenstand meiner Liebe
 
 
– o Himmel! –
 
 
überquerte die Welle des Kokytos. Der in Kriegsdingen so berühmte König,
 
 
die Geißel seiner Feinde, der Abgott
 
 
seines Hofes,
 
 
der Schrecken und die Liebe der ganzen Welt,
 
 
von ungerechten Göttern verfolgt, unterdrückt
 
 
– und siehe nun, ob mein Schmerz gerecht ist –
 
 
von der Wut der Wellen…
 
 
Idomeneo
 
 
[weint und seufzt.]
 
 
Ah, grausamer Zufall!
 
 
Idamantes
 
 
In diese Abgründe gestoßen,
 
 
ruht der tote Held Idomeneo.
 
 
Aber du seufzt und weinst?
 
 
Ist dir Idomeneo bekannt?
 
 
Idomeneo
 
 
Es gibt keinen
 
 
bedauernswerteren Menschen als ihn, niemand vermag
 
 
sein schweres Schicksal zu lindern.
 
 
Idamantes
 
 
Was redest du?
 
 
Lebt er noch?
 
 
 
 
(O Götter! Ich hoffe wieder.)
 
 
 
 
Ah, sage mir, Freund, sage mir:
 
 
Wo ist er? Wo wird sein süßer Anblick
 
 
das Leben mir wiedergeben?
 
 
Idomeneo
 
 
Aber woher kommt
 
 
diese Zartheit der Liebe,
 
 
die du für ihn hegst?
 
 
Idamantes
 
 
Könnte ich wenigstens
 
 
ihm selbst meine Gefühle zeigen!
 
 
Die berühmten Taten, dank derer Griechenland sich
 
 
vor jenem erlauchten Namen
 
 
mit Ehrfurcht beugt,
 
 
waren Ansporn für mein Herz.
 
 
Ah, warum konnte ich nicht, trotz Todesgefahr, dort auf den trojanischen Feldern,
 
 
als er Lorbeeren und Trophäen sammelte,
 
 
da ich schon Zeuge seiner Tapferkeit gewesen bin,
 
 
auch seines großen Ruhmes teilhaftig werden?
 
 
Idomeneo
 
 
Edler Mut. O Leben,
 
 
das würdig ist, dass es der Himmel
 
 
mit Ruhm und Glanz krönt!
 
 
 
 
Doch dieses Antlitz
 
 
ist mir nicht ganz fremd; irgend etwas
 
 
erkenne ich an diesem…
 
 
Idamantes
 
 
 
 
(Nachdenklich heftet er den traurigen Blick
 
 
auf mich… und doch durch diese Stimme,
 
 
dieses Antlitz und diese Bewegung erinnert mich der Mann
 
 
an einen, der mir entweder am Hofe oder im Felde bekannt und befreundet war.)
 
 
Idomeneo
 
 
Du überlegst?
 
 
Idamantes
 
 
Du betrachtest mich und schweigst.
 
 
Idomeneo
 
 
Warum verwirrt mich dein Reden so?
 
 
Idamantes
 
 
Und was für eine Verwirrung fühle auch ich
 
 
in meiner Seele?… Ach, ich kann
 
 
die Tränen nicht mehr zurückhalten…
 
 
[weint.]
 
 
Idomeneo
 
 
Aber sage: Welcher Quelle
 
 
entspringen solche Tränen? Und dieser so bittere Schmerz,
 
 
der dich um Idomeneo so trauern lässt…
 
 
Idamantes
 
 
[mit Nachdruck.]
 
 
Ah, er ist doch der Vater…
 
 
Idomeneo
 
 
[unterbricht ihn ungeduldig.]
 
 
(O Gott!)
 
 
Sprich: Wessen Vater ist er?
 
 
Idamantes
 
 
[mit schwacher Stimme.]
 
 
Er ist mein Vater!
 
 
Idomeneo
 
 
 
 
Erbarmungslose Götter!…
 
 
Idamantes
 
 
Mit mir beweinst du
 
 
das Schicksal meines Vaters?…
 
 
Idomeneo
 
 
[schmerzlich.]
 
 
Ah, Sohn!…
 
 
Idamantes
 
 
[sehr heiter.]
 
 
Ah, Vater! Ah, Götter!
 
 
Wo bin ich? Oh, welche Wonne!… Dulde es,
 
 
geliebter Vater, dass an deiner Brust…
 
 
[will ihn umarmen.]
 
 
und eine Umarmung…
 
 
[Der Vater wendet sich verstört ab.]
 
 
Weh mir! Warum zürnst du?…
 
 
Fliehst mich verzweifelt?… Ach wohin, ach wohin?
 
 
Idomeneo
 
 
Folge mir nicht, ich verbiete es dir:
 
 
Für dich wäre es besser, du hättest mich
 
 
jetzt hier nicht erblickt.
 
 
Fürchte es, mich wiederzusehen.
 
 
[geht eilends ab.]
 
 
Idamantes
 
 
Ah, welch eisiger Schrecken trübt meine Sinne!…
 
 
Kaum erblicke ich ihn, erkenne ihn,
 
 
da entflieht er im Nu meinen zärtlichen Worten.
 
 
Ich Armer! Womit habe ich ihn beleidigt und wieso
 
 
verdiente ich diesen Zorn, diese Drohungen?…
 
 
Ich will ihm folgen und sehen – o hartes Schicksal! –
 
 
was für ein noch größeres Unheil mir bevorsteht.
 
 
Nr. 7 Arie
 
 
Idamantes
 
 
Den geliebten Vater
 
 
finde ich wieder und verliere ihn.
 
 
Er flieht mich erzürnt,
 
 
schaudernd vor Entsetzen.
 
 
Ich meinte zu sterben
 
 
vor Freude und Liebe:
 
 
Jetzt – grausame Götter! –
 
 
tötet mich der Schmerz.
 
 
[geht schmerzerfüllt ab.]
 
 
[Ende des ersten Aktes.]