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     Hochedler, Hochzuehrender Herr,
ich müßte sehr unempfindlich seÿn, wenn mich die ausser-
ordentliche Gewogenheit, mit der Sie mich ehren, nicht
hätte rühren sollen; u. ich würde der undankbarste
Mann seyn, wenn ich Ihren so freundschaftlichen Brief
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ohne Erkenntlichkeit hätte lesen können. Nein, mein
werthester Herr, ich nehme Ihre Liebe u. Ihre Freundschaft
mit eben der Aufrichtigkeit an, mit der Sie mir sie an-
bieten, u. ich nehme sie nicht allein an, sondern ich bitte
Sie darum, u. will mich bemühen, sie zu verdienen, je
weniger ich sie vielleicht noch verdient habe. Ich werde oft
unruhig, wenn ich sehe, dass mir meine Schriften die Gewo-
genheit so vieler rechtschaffenen Leute zuwege bringen;
denn ich will dis Glük nicht allein erlangen, sondern
auch behaupten; u. dazu gehören mehr Verdienste als
ich habe. Also lesen Sie meine Schriften gerne, hoch-
zuehrender Herr, u. ermuntern auch Ihre Freunde, sie
zu lesen? Diese Belohnung, wie ich Ihnen aufrichtig sage,
habe ich von dem Orte, aus dem ich sie erhalte, ohne
Eigenliebe kaum hoffen können. Wie glüklich bin
ich, wenn ich glauben darf, daß ich zur Erhaltung des
Geschmaks u. der guten Sitten auch ausser meinem
Vaterlande Etwas beitrage! Hat "der Christ",
eins von meinen lezten Gedichten, auch Ihren Beifall?
Ich beantworte mir diese Frage beinahe mit Ja.
Sein Inhalt, Ihr edler Karakter, den Sie, ohne
es zu wissen, in Ihrem Briefe mir entworfen haben,
u. meine redliche Absicht scheinen, mir dieses Ja
zu erlauben. Ich würde mehr mit Ihnen reden, wenn
ich nicht im Begriffe stünde, in das Carlsbad zu
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reisen, dahin mich die elendeste Krankheit, ich
meine die Hypochondrie, ruft. Mögte es doch Gott
gefallen, mich von diesem Orte, den er für so viel tau-
send Kranke gesegnet hat, u. an dem ich schon vorm
Jahr oft mit Thränen u. Heiterkeit des Geists ge-
betet habe, mich, sage ich, gesünder zurückzubringen,
als ich hin reise! Doch vielleicht wünsche ich zu viel, viel-
leicht gar Etwas, das mir nicht gut seyn würde.
Begleiten Sie mich indessen mit Ihren Wünschen, wer-
thester Herr. Bin ich im Stande, Ihnen hier, es sei
worin es wolle, zu dienen, so will ich Ihnen beweisen,
dass ich des Vertrauens, das Sie in mich sezen, nicht
unwerth bin. Allen Ihren Freunden, wenn sie Ihnen
gleichen (u. wie sollten Sie Freunde haben, die Ihnen
nicht ähnlich wären?) empfehle ich mich beßtens.
Ihnen aber danke ich nochmals für den schönen,
beredten u. empfindungsvollen Brief, mit dem
Sie mich erfreuet haben, u. bin mit der vollkom-
mensten Hochachtung Euer Hochedl gehorsamster Diener
                                            Christian Fürchtegott Gellert
P.S. dhς. Professor Formey in Berlin hat einen kleinen
Roman von mir Leben der schwedischen Gräfinn
in das französische schön übersetzt – wenn Sie
vielleicht dieses Werk lesen wollen.