Dritter Teil
 
 
Christengeist und Christ.
 
 
Christengeist
 
 
Du willst es mir verschweigen,
 
 
da doch die Unruh deiner Augen
 
 
ein stilles Missvergnügen zeigt.
 
 
Willst du so wenig Zuversicht
 
 
auf meine dir bekannte Neigung setzen?
 
 
Christ
 
 
Nein, auf so undankvolle Weise
 
 
die Pflicht der Freundschaft zu verletzen,
 
 
würd ich mich nicht erkühnen:
 
 
Ich förchte mich, nur deinen Hass
 
 
zur Strafe zu verdienen,
 
 
wenn ich dir sollte sagen – – – –
 
 
Christengeist
 
 
Und was – – – ach! lasse mich nicht länger fragen,
 
 
und rede, wie ein Freund mit Freunden reden soll.
 
 
Christ
 
 
So wisse dann: Ein unbekannter Lehrer
 
 
im Philosophenkleid, ein Mann, der mir sowohl
 
 
von Sitten artig schien als klug und tugendsam,
 
 
traf ohngefähr zu mir, nachdem ich dich verließ,
 
 
und da er auch zu sprechen kam
 
 
vom hohen Tugendwert, erhob er ihren Ruhm
 
 
und setzte manchen schönen Spruch
 
 
der neusten Sittenlehrer bei.
 
 
Doch sagt' er mir zugleich, dass sie zu üben schwer,
 
 
ja manchem jungen Blut fast gar unmöglich sei,
 
 
als welches noch vertobenDas nicht mehr gebräuchliche Verb "vertoben" bedeutet hier "sich austoben". Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 25, Leipzig 1956, Sp. 1916-1917 (Art. "VERTOBEN"). müsse:
 
 
Der Weisheit Rat verwerfe solche Schlüsse,
 
 
die gegen andrer Lebensweise
 
 
zu sonderbar und niederträchtig sind;
 
 
die Buße gelte ja im hohen Alter noch.
 
 
Man könne Gott das Seine
 
 
und doch der Welt das, was sie fordert, geben.
 
 
Mit einem Wort: Man soll wie andre leben.
 
     
 
    Tugend ist ein teures Gut:
 
 
Dieses Kleinod zu erlangen,
 
 
will es riesengleichen Mut. 72Liber Proverbiorum, cap. 26, v. 13: "Dicit piger: Leo est in via, et leæna in itineribus".
 
 
Ihr will ich mein Herze weihen,
 
 
ihr will ich ergeben sein.
 
 
Doch wer wird die Kraft verleihen?
 
 
Soll ich mich wohl unterfangen?
 
 
Ach! ich denke – – ja und nein.
 
     
 
    Tugend ist etc.
 
 
Christengeist
 
 
O liebster Freund! wie bist du doch betrogen!
 
 
Die Warnung, die ich dir nicht ohne Vorsicht gab,
 
 
hast du nicht allzu wohl erwogen,
 
 
sonst hätte das Gesang den Vogel dir entdeckt:
 
 
Erkennest du denn nicht, dass unter diesem Schmuck
 
 
vermeinter Weisheitlehre
 
 
die Eigenliebe sich versteckt? 73Evangelium secundum Ioannem, cap. 7, v. 18: "Qui a semetipso loquitur, gloriam propriam quærit. qui autem quærit gloriam eius, qui misit eum, hic verax est, et iniustitia in illo non est."
 
 
Wo stehet wohl geschrieben,
 
 
dass junges Blut vertobenDas nicht mehr gebräuchliche Verb "vertoben" bedeutet hier "sich austoben". Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 25, Leipzig 1956, Sp. 1916-1917 (Art. "VERTOBEN"). solle? 74Epistola Ioannis I, cap. 2, v. 14 et 15: "Scribo vobis infantes, quoniam cognovistis patrem. Scribo vobis iuvenes, quoniam fortes estis, et verbum Dei manet in vobis, et vicistis malignum. Nolite diligere mundum, neque ea, quæ in mundo sunt. Si quis diligit mundum, non est charitas Patris in eo".
 
 
dass Gott das Alter uns verspricht und bis dahin
 
 
auf unsre Buße warten wolle? 75Evangelium secundum Marcum, cap. 13, v. 35 usque ad 37: "Vigilate ergo, (nescitis enim quando dominus domus veniat: sero an media nocte, an galli cantu, an mane) ne cum venerit repente, inveniat vos dormientes. Quod autem vobis dico, omnibus dico: Vigilate."
 
 
dass er mit halben Herz vergnüget wolle sein, 76Liber Deuteronomii, cap. 11, v. 13: "Si ergo obedieritis mandatis meis, quæ ego hodie præcipio vobis, ut diligatis Dominum Deum vestrum, et serviatis ei in toto corde vestro, et in tota anima vestra".
 
 
dass uns, was andre Menschen tuen,
 
 
statt der Gebote gelte 77Liber Exodus, cap. 23, v. 2: "Non sequeris turbam ad faciendum malum: nec in iudicio, plurimorum adquiesces sententiæ, ut a vero devies."
 
 
und das, was er befiehlt, der selbst die Weisheit ist,
 
 
zu halten uns unmöglich sei? 78Liber Deuteronomii, cap. 30, v. 11: "Mandatum hoc, quod ego præcipio tibi hodie, non supra te est, neque procul positum".
 
 
Wem immer fällt die Meinung bei,
 
 
dass Frömmigkeit uns wie verächtlich mache?
 
 
Die von den Bösen selbst doch heimlich wird geschätzt
 
 
und nur darum den Schmähe-Zungen
 
 
betörter Menschen ausgesetzt,
 
 
weil edler Tugendgeist und frommer Sitten Kraft
 
 
das Tun der faulen Christen straft. 79Liber Sapientiæ, cap. 2, v. 12: "Circumveniamus ergo iustum, quoniam inutilis est nobis, et contrarius est operibus nostris, et improperat nobis peccata legis, et diffamat in nos peccata disciplinæ nostræ."
 
 
Was wirst du nun erwählen?
 
 
Soll man dich in die Schar der faulen Knechte zählen?
 
 
Christ
 
 
Der Himmel schütze mich vor solchem Aberwitz,
 
 
ich will dem Untergang, ich will der Höll entgehn:
 
 
Der Vorsatz ist gemacht, zu dienen meinem Gott
 
 
getreu bis an das Ende.
 
 
Doch wenn ich meine Augen
 
 
auf meine Schwachheit wende,
 
 
so fühl ich neuen Schrecken.
 
 
Christengeist
 
 
Ich aber neuen Trost an dir:
 
 
Denn das Gebot verlangt von dir ein Mehrers nicht
 
 
als das, wohin die Kräften sich erstrecken.
 
 
Ich sehe zwar, dass dir noch an der Liebe fehlt:
 
 
Der Strafe Forcht, die dich am Weg der Tugend hält
 
 
und deine Zärtlichkeit, die dich zu schrecken sucht,
 
 
sind in dem Herzen noch verborgen.
 
 
Doch fange nur, mein Freund! fang recht zu lieben an,
 
 
so hast du nichts von beiden zu besorgen. 80Epistola Pauli ad Romanos, cap. 8, v. 28: "Scimus autem quoniam diligentibus Deum omnia cooperantur in bonum, iis, qui secundum propositum vocati sunt sancti."
 
 
Christ
 
 
Allein die Straße voll Beschwerden
 
 
Christengeist
 
 
wird dir zum bestgebahnten Weg, 81Liber Sapientiæ, cap. 10, v. 10: "Hæc profugum iræ fratris iustum deduxit" Dominus "per vias rectas, et ostendit illi regnum Dei, et dedit illi scientiam sanctorum: honestavit illum in laboribus, et complevit labores illius."
 
 
Christ
 
 
die Dorn- und Düstelmenge – –
 
 
Christengeist
 
 
zu schönsten Rosen werden. 82Prophetia Isaiæ, cap. 35, v. 1: "Lætabitur deserta et invia, et exultabit solitudo, et florebit quasi lilium."
 
 
Christ
 
 
Die Viele der Gefahren
 
 
Christengeist
 
 
wird durch des Höchsten Schutz von dir gewendet sein
 
 
Christ
 
 
und meiner Feinde Scharen – – –
 
 
Christengeist
 
 
wird seine Helferhand besiegen. 83Psalmus 45 (46), v. 2: "Deus noster refugium, et virtus: adiutor in tribulationibus, quæ invenerunt nos nimis."
 
 
Christ
 
 
Ist wohl so viel zu hoffen,
 
 
so viel zu können mir erlaubt?
 
 
Christengeist
 
 
Wie? Soll die Hoffnung dich allein betrügen,
 
 
so vieler Tausenden, die nicht betrogen sind?
 
 
Wirst du allein nicht können,
 
 
was ungezählte Reihen,
 
 
wie die Geschichte zeigt, vor deiner schon gekönnt? 84Sancti Augustini Confessiones, liber VIII, cap. 11 (27): "Tu non poteris, quod isti," et "quod istae?"
Die Textwiedergabe und Zitierweise dieser Fußnote richtet sich nach folgender kritischer Ausgabe: Augustinus (Sancti Augustini), Confessionum Libri XIII (Corpus Christianorum Series Latina XXVII), hrsg. von Lukas Verheijen, Turnholt 1981, S. 130.
 
 
Von denen man doch weiß, dass sie auch stärker nicht
 
 
als du gewesen seien?
 
 
Ja deren reife Witz"Witz" ist hier mit "Vernunft, Verstand" gleichzusetzen, einer veralteten Bedeutung dieses Substantivs. Das maskuline Genus konnte sich erst zu Beginn des 18. Jhdts. vollständig gegenüber dem femininen durchsetzen. Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 30, Leipzig 1960, Sp. 861-888 (Art. "WITZ"); Dudenredaktion, Deutsches Universalwörterbuch, 7. Aufl., Mannheim/Zürich 2011, S. 2022 (Art. "Witz"). hat für den größten Ruhm
 
 
und für ein Glück erkennet,
 
 
was je die Welt ein Ubel nennet; 85Epistola Pauli ad Romanos, cap. 5, v. 3: "Non solum autem, sed et gloriamur in tribulationibus: scientes quod tribulatio patientiam operatur".
 
 
weil ihnen war bewusst, dass jener nur allein,
 
 
der sich das Kreuz erwählet,
 
 
des Heiland Jünger könne sein, 86Evangelium secundum Lucam, cap. 14, v. 27: "Et qui non baiulat crucem suam, et venit post me, non potest meus esse discipulus."
 
 
dass mit dem Lohn der Himmelsfreuden
 
 
nicht zu vergleichen sei die Schwere
 
 
von unserm kurzen Leiden, 87Epistola Pauli ad Corinthios II, cap. 4, v. 17: "Id enim, quod in præsenti est momentaneum et leve tribulationis nostræ, supra modum in sublimitate æternum gloriæ pondus operatur in nobis".
 
 
dass Gott nur jene Opfer liebt,
 
 
die man mit frohen Mut und nicht mit Zagheit gibt. 88Epistola Pauli ad Corinthios II, cap. 9, v. 7: "Unusquisque prout destinavit in corde suo, non ex tristitia, aut ex necessitate: hilarem enim datorem diligit Deus."
 
 
Darum so sei beherzt, mach deine Sinne frei
 
 
von jener Forcht, die allzu knechtlich ist:
 
 
Denn wer nur förchtend liebt, der liebet nicht getreu. 89Epistola Ioannis I, cap. 4, v. 18: "Timor non est in charitate: sed perfecta charitas foras mittit timorem, quoniam timor pœnam habet. qui autem timet, non est perfectus in charitate."
 
 
Weil du ihm dienen willst, so diene ihm mit Lust: 90Psalmus 99 (100), v. 2: "Iubilate Deo omnis terra: servite Domino in lætitia. Introite in conspectu eius, in exultatione."
 
 
Doch lass zu seinem Thron ergehen
 
 
dein demutvolles Flehen
 
 
um seiner reichen Gnade Kraft,
 
 
die dich mit solchem Mut belebe, 91Epistola Pauli ad Philippenses, cap. 4, v. 13: "omnia possum in eo, qui me confortat."
 
 
dass sich dein Herze ganz und nicht nur halb ergebe.
 
     
 
    Willst du, dass die Sorge schwinde,
 
 
die bisher dich hat betrübt,
 
 
lieb' als ein getreues Kinde 92Epistola Pauli ad Romanos, cap. 8, v. 15: "Non enim accepistis spiritum servitutis iterum in timore, sed accepistis spiritum adoptionis filiorum, in quo clamamus: Abba (Pater)."
 
 
Gott, der dich als Vater liebt.
 
     
 
    Festes Glauben, steifes Hoffen
 
 
sei der wahren Liebe Grund:
 
 
Diese hält den Himmel offen,
 
 
diese schließt den Höllenschlund.
 
     
 
    Willst du etc.
 
 
Indessen sage mir, doch ohne Scheu:
 
 
Ist jener, den wir da von Weiten kommen sehn,
 
 
nicht etwan der, so dich unrecht belehret hat?
 
 
Christ
 
 
Er gleichet ihm – – – er ist es in der Tat.
 
 
Christengeist
 
 
Ich wünsche mir, mit ihm zu sprechen,
 
 
doch wirst du ihm vorher – – –
 
 
Christ
 
 
Ach! lass mich nicht allein.
 
 
Christengeist
 
 
Du förchtest dich, ich lobe diese Forcht,
 
 
die wider die Gefahr pflegt als ein Schild zu sein.
 
 
Jedoch, weil meine Gegenwart
 
 
von ihme sehr wird abgescheutDas seltene, nur wie hier im Partizip II belegte Verb "abscheuen" kann in zeitgenössischen Quellen stets durch "abschrecken" substituiert werden. Da der vorliegende semantische Kontext und der Handlungsfortgang diese Bedeutung tendenziell ausschließen, ist hier entweder von einem idiomatischen Gebrauch im Sinne von "verabscheuen" oder aber einem Versehen des Librettisten auszugehen. Eine Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang das im 18. Jhdt. noch gebräuchliche Substantiv "Abscheuen" mit der Bedeutung "Schrecken, Abscheu". Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1854, Sp. 98 (Art. "ABSCHEUEN").,
 
 
erwart ich ihn verborgen hier
 
 
und bin zugleich bedacht auf deine Sicherheit.
 
 
(Er stellt sich hinter das nächste Gebüsche.)
 
 
Christ
 
 
(allein)
 
 
Ich hoffe nun auf dich, o göttlich' höchster Geist,
 
 
du Herr der Macht und Stärke!
 
 
Der unsre Zuflucht, Hilf und unser Tröster heißt: 93Psalmus 30 (31), v. 2: "In te Domine speravi non confundar in æternum: in iustitia tua libera me."
Psalmus 58 (59), v. 6: "Exurge in occursum meum, et vide: et tu Domine Deus virtututm, Deus Israel, Intende ad visitandas omnes gentes: non miserearis omnibus, qui operantur iniquitatem."
Psalmus 58 (59), v. 18: "Adiutor meus tibi psallam, quia Deus susceptor meus es: Deus meus misericordia mea."
 
 
Errette mich von falscher Zungenlüst94Psalmus 119 (120), v. 2: "Domine libera animam meam a labiis iniquis, et a lingua dolosa."
 
 
und nimm mein demutvolles Herz,
 
 
ein Herz, von Reu zerknirscht, zu einem Opfer an, 95Psalmus 50 (51), v. 19: "Sacrificium Deo spiritus contribulatus: cor contritum, et humiliatum Deus non despicies."
 
 
erleuchte meine Sinne.
 
 
Entzünde meine Brust mit reger Liebesglut, 96Psalmus 66 (67), v. 2 et 3: "Deus misereatur nostri, et benedicat nobis: illuminet vultum suum super nos, et misereatur nostri. Ut cognoscamus in terra viam tuam: in omnibus gentibus salutare tuum."
Sancti Augustini Confessiones, liber X, cap. 29 (40): "O amor, qui semper ardes et numquam extingueris, caritas, deus meus, accende me!"
Die Textwiedergabe und Zitierweise dieser Fußnote richtet sich nach folgender kritischer Ausgabe: Augustinus (Sancti Augustini), Confessionum Libri XIII (Corpus Christianorum Series Latina XXVII), hrsg. von Lukas Verheijen, Turnholt 1981, S. 176.
 
 
damit in mir stets neuer Eifer brinne,
 
 
getrost zu gehn des Leidens raue Wege.
 
 
Gib, dass ich fröhlich rufen möge:
 
 
"Der Feind hat meine Seel vergebens aufgesucht; 97Psalmus 62 (63), v. 10: "Ipsi vero in vanum quæsierunt animam meam, introibunt in inferiora terræ".
 
 
die Bande sind beglückt entzwei 98Psalmus 123 (124), v. 7: "Anima nostra sicut passer erepta est de laqueo venantium: Laqueus contritus est, et nos liberati sumus."
 
 
und ich nunmehr bin von denselben frei."
 
 

Weltgeist
 
 
(die letzte Worte hörend und als ein Weisheitlehrer gekleidet)
 
 
Zu solchem deinen Glücke
 
 
bezeug ich dir, wie billig, meine Freude:
 
 
Denn wisse, dass auch ich an deinem Wohlergehn
 
 
sehr großen Anteil nehme
 
 
und mein Vergnügen sei, dich abermal zu sehn.
 
 
Christ
 
 
Ich bin ja ohn Verdienst und wenig dir bekannt.
 
 
Weltgeist
 
 
Verdienste schon genug, die sich vor einer Stunde
 
 
durch dein vernünftiges Gespräche
 
 
sich mir entdecket haben.
 
 
Christ
 
 
Du schmeichelst mir doch allzu viel.
 
 
Weltgeist
 
 
Nein, deiner Tugend Gaben
 
 
sind jenes, was ich lobe:
 
 
Ich weiß, du schätzest sie, und dieses tue auch ich.
 
 
So gleicher Neigung Probe
 
 
bewoge mich, dich jetzund zu begleiten
 
 
auf eine kleine, hohe Schule,
 
 
wo man mit ganz besondrer Lust
 
 
von so gelehrt als besterfahrnen Leuten
 
 
die allerbündigsten und schönsten Sätze hört
 
 
betreffend den Geschmack der Tugend dieser Zeit.
 
 
Christ
 
 
(Wie mach ich mich von ihme los? – – –)
 
 
(zu dem Weltgeist)
 
 
Ich danke dir für solche Höflichkeit.
 
 
Doch hab ich jetzt ein anders Werke vor,
 
 
so mich verhindert macht, –
 
 
Weltgeist
 
 
– Dies hoff ich nicht,
 
 
vielmehr erbitt ich mir die Ehre
 
 
von deiner Gegenwart dort, wo ich unverdient
 
 
zu führen hab des ersten Lehrers Rang.
 
 
Christ
 
 
(Wo bleibet doch mein teurer Freund so lang? –)
 
 
Weltgeist
 
 
Ei, komme doch mit mir, es soll dich nicht gereuen.
 
 
Christengeist
 
 
Erlaubest du vielleicht auch mir, dabei zu sein?
 
 
Christ
 
 
(Nun bin ich außer Sorgen.)
 
 
Weltgeist
 
 
(Verfluchter Streich! Doch ich verstelle mich.)
 
 
(zu dem Christengeist)
 
 
Zu kommen steht zwar jedem frei,
 
 
wer aber ängstig ist und alles richten will,
 
 
den sicht man lieber nicht dabei.
 
 
Christengeist
 
 
So seh ich denn auch dich nicht gern in meiner Schul,
 
 
der du ein Tugendfeind und falscher Lehrer bist.
 
 
(Er entdecket ihn durch Eröffnung des Kleids.)
 
 
Darum entdecke dich und wandre weit von hier,
 
 
wo etwan dir erlaubet ist,
 
 
durch Blendewerk, durch List und Lügen
 
 
die Menschen zu betrügen.
 
 
 
 
Beide
 
     
 
    Hier sehe man
 
 
Christengeist, Weltgeist
 
 
im Lämmerfell den Wolfen|im Löwenfell den Esel an, 99Evangelium secundum Matthæum, cap. 7, v. 15: "Attendite a falsis prophetis, qui veniunt ad vos in vestimentis ovium, intrinsecus autem sunt lupi rapaces".
 
 
Christengeist, Weltgeist
 
 
den Lehrer falscher|den Prahler seiner Tugend,
 
 
Christengeist, Weltgeist
 
 
der nur die freie|der die belebte Jugend
 
 
Christengeist, Weltgeist
 
 
verführen|nur schrecken kann. 100Epistola Pauli ad Romanos, cap. 16, v. 18: "Huiuscemodi enim Christo Domino nostro non serviunt, sed suo ventri: et per dulces sermones, et benedictiones seducunt corda innocentium."
 
 
Christengeist, Weltgeist
 
     
 
    Hier sehe etc.
 
 
 
 
Weltgeist
 
 
Ist dies die schöne Sittenart,
 
 
die du mit deinem Beispiel lehrest?
 
 
Ich ließe dich mit Ruh und du beschimpfest mich.
 
 
Christengeist
 
 
Das eitle Tun der Pharisäer
 
 
bestraft der Heiland offentlich:
 
 
Wer dann als Heuchler spielt mit falschen Tugendschein,
 
 
der kann von mir nicht wohl verschonet sein. 101Evangelium secundum Matthæum, cap. 23, v. 1: "Tunc Iesus locutus est ad turbas, et ad discipulos suos".
 
 
Weltgeist
 
 
Nun zeigest du, dass du ein Splitter-Richter bist:
 
 
Du klagest mich des Fehlers an,
 
 
den du vor mir und öfters hast getan.
 
 
Wenn du bist ohne Schuld, so hab ich nicht gefehlt.
 
 
Wenn die Verkleidung ist bei mir nur Heuchelei,
 
 
was war es denn bei dir? Hast du dich nie verstellt?
 
 
Christengeist
 
 
Ein Heuchler stellet vor ein andern, als er ist.
 
 
Dass ich zum Seelenheil ein Arzt und Gärtner bin,
 
 
ist jedermann bekannt, und diese stellt ich vor.
 
 
Du aber hast den Sinn, zu scheinen als ein Christ,
 
 
und bleibest doch ein halber Heid. 102Evangelium secundum Matthæum, cap. 23, v. 27: "Væ vobis Scribæ, et Pharisæi hypocritæ: quia similes estis sepulchris dealbatis, quæ aforis parent hominibus speciosa, intus vero plena sunt ossibus mortuorum, et omni spurcitia."
 
 
Weltgeist
 
 
Gemach: du redest sehr vermessen
 
 
ein Wort, das du nicht kannst erweisen.
 
 
Ich bin kein Dieb, kein Mörder, kein Verleumder,
 
 
kein Flucher, Schwörer, Ehrenräuber,
 
 
ich lebe, ohne mich zu preisen,
 
 
nicht ärgerlich, nicht meisterlos,
 
 
ich weiß freigebig mich zu zeigen,
 
 
gefällig, friedsam, gut zu sein,
 
 
zu dulden und zu schweigen.
 
 
Christengeist
 
 
Dies alles haben auch die Heiden oft getan, 103Evangelium secundum Matthæum, cap. 5, v. 47: "Et si salutaveritis fratres vestros tantum, quid amplius facitis? nonne et ethnici hoc faciunt?"
 
 
ja manche noch weit mehr, aus Wohlstand, Ehregeiz,
 
 
Forcht, Eigennutz, naturgemäßen Triebe:
 
 
Was tust du aber wohl aus wahrer Christenpflicht
 
 
dem höchsten Gott zu Liebe?
 
 
Ach! nur für ihn allein ist alle Müh zu viel: 104Epistola Pauli ad Thimotheum II, cap. 3, v. 2, 4 et 5: "erunt homines seipsos amantes, cupidi, elati, superbi, blasphemi, parentibus non obedientes, ingrati, scelesti, {... (v. 3)}proditores, protervi, tumidi, et voluptatum amatores magis quam Dei: habentes speciem quidem pietatis, virtutem autem eius abnegantes. Et hos devita".
 
 
Ein dir nicht ganz bequeme Stunde,
 
 
ja nur dein bloß zu träger Will
 
 
verhindert dich von seinem heil'gen Dienste.
 
 
Gebete währt zu lang, und Fasten fällt zu schwer,
 
 
was du den Armen gibst, geschicht aus eitlen Ziel;
 
 
die dir verliehne Gnadenzeit
 
 
verschwendest du mit Schwätzen, Schlaf und Spiel.
 
 
Der Andacht schämst du dich, die andre auferbaut,
 
 
gottseliger Gebrauch, das Tun der Priesterschaft,
 
 
der Frommen Beispiel und Ermahnen
 
 
kömmt dir einfältig vor, verächtlich mangelhaft,
 
 
da doch der Heiland selbst uns in die Ohren schreit:
 
 
"Wer vor den Menschen hier sich meiner schämen wird,
 
 
desselben will auch ich mich schämen
 
 
einst, wann ich komm in meiner Herrlichkeit." 105Evangelium secundum Lucam, cap. 9, v. 26: "Nam qui me erubuerit, et meos sermones: hunc Filius hominis erubescet cum venerit in maiestate sua, et Patris, et sanctorum angelorum."
 
 
Vom Hören kommt der Glaub, wann hörst du Gottes Wort? 106Epistola Pauli ad Romanos, cap. 10, v. 17: "Ergo fides ex auditu, auditus autem per verbum Christi."
 
 
Ein geistlich Buch erquicket, nährt den Geist;
 
 
was liesest du, das wahrhaft geistlich heißt 107Epistola Pauli ad Timotheum II, cap. 3, v. 16 et 17: "Omnis scriptura divinitus inspirata utilis est ad docendum, ad arguendum, ad corripiendum, ad erudiendum in iustitia: ut perfectus sit homo Dei, ad omne opus bonum instructus."
 
 
und etwan, pfui der Schande!
 
 
mit zartem Heidengift nicht untermenget ist? 108Apocalypsis Ioannis, cap. 10, v. 9: "Et abii ad angelum, dicens ei, ut daret mihi librum. Et dixit mihi: Accipe librum, et devora illum: et faciet amaricari ventrem tuum, sed in ore tuo erit dulce tamquam mel."
 
 
Ein ewig hoher Wert wird außer Acht gesetzet,
 
 
und was vergänglich, wird geschätzet. 109De imitatione Christi, liber III, cap. 3, v. 8 et 9:
"Promittit temporalia et parva mundus, et servitur ei aviditate magna.
Ego promitto summa et aeterna, et torpescunt mortalium corda."

Die Textwiedergabe und Zitierweise dieser Fußnote richtet sich nach folgender kritischen Ausgabe: De imitatione Christi libri quatuor, hrsg. von Tiburzio Lupo, Città del Vaticano 1982, S. 138.
 
 
Doch glaubest du, bei dir und deinesgleichen
 
 
sei ganz allein der Weisheit Licht,
 
 
die aber Torheit ist vor Gottes Angesicht 110Epistola Pauli ad Corinthios I, cap. 3, v. 19: "Sapientia enim huius mundi, stultitia est apud Deum. Scriptum est enim: Comprehendam sapientes in astutia eorum."
 
 
und klar erweist, dass dir am Grund der Demut fehlt,
 
 
dass Glaub und Hoffnung sei bei dir
 
 
kaum halbes Glauben, halbes Hoffen,
 
 
und dass die Liebe noch viel schlechter sei bestellt,
 
 
die von dem Schöpfer doch so deutlich und so scharf
 
 
bei Höllenstraf und für des Himmels Lohn
 
 
uns anbefohlen wird. Du weißt, ein fauler Knecht,
 
 
der das Gebet, das Kreuz, die Arbeit flieht, 111Evangelium secundum Matthæum, cap. 25, v. 30: "Et inutilem servum eiicite in tenebras exteriores: illic erit fletus, et stridor dentium."
 
 
verdient des Herren Zorn, den Fluch und das Gericht:
 
 
Du bist ein solcher Knecht, so mache dann den Schluss
 
 
für dich und für die Deinen.
 
 
Indessen lebt ihr fort in falscher Sicherheit.
 
 
Ach! sprechet lieber jetzt als dort, da es zu spät,
 
 
am schaudervollen Rand der nahen Ewigkeit:
 
 
"Wir Menschen ohne Sinn, wir haben weit gefehlt!" 112Liber Sapientiæ, cap. 5, v. 4 et 6: "Nos insensati vitam illorum æstimabamus insaniam, et finem illorum sine honore:{ ... (v. 5)} Ergo erravimus a via veritatis, et iustitiæ lumen non luxit nobis, et Sol intelligentiæ non est ortus nobis."
 
 
Weltgeist
 
 
Die Predig war so ziemlich gut gemeint,
 
 
doch allzu lang für mich. Hingegen sag ich kurz:
 
 
Dass mich die Strenge deiner Schlüsse
 
 
noch schrecke noch verdrieße, 113Liber Proverbiorum, cap. 18, v. 2: "Non recipit stultus verba prudentiæ: nisi ea dixeris quæ versantur in corde eius."
 
     
 
    es kenne mich jeder, was lieget daran?
 
 
Dich schauen ja dennoch die meiste nicht an.
 
 
Mein Liede wird allen
 
 
noch immer gefallen;
 
     
 
    man höret erklingen
 
 
mit hellen, mit süßen, mit fröhlichen Laut
 
 
das tägliche Singen:
 
 
Der Himmel ist nicht für die Gänse gebaut.Diese Redewendung wird bereits in Predigtsammlungen des 16. Jhdts. als symptomatisch für übertriebenes Vertrauen auf die Gnade und Nachsicht Gottes zurückgewiesen. Für eine weite Verbreitung und allgemeine Bekanntheit des Spruchs schon um 1600 spricht seine Aufnahme (als Beleg unter dem Stichwort "Gente/Gänse") in ein frühes deutsches Wörterbuch von 1616. Vgl. u.a. Christliche Predigen über ettliche Sonntägliche Evangelien. [...] Gepredigt zů Lawgingen / durch Jacobum Andree / der Heiligen Schrifft Doctorn. AN. M.D.L.X. Tübingen 1562, S. 108r (digitale Reproduktion (D-Mbs)); Georg Henisch, Teütsche Sprach vnd Weißheit. Thesavrvs lingvae et sapientiae Germanicae [...], Augsburg 1616, Sp. 1497 (digitale Reproduktion (A-Wn)).
 
 
(geht in Eil fort)
 
 

Christengeist und Christ
 
 
Christengeist
 
 
Der Himmel ist für Gänse nicht gebaut,
 
 
doch ebenso die Hölle:
 
 
Zu dieser hält der laue Sinn die Schwelle
 
 
in vollem Angel offen,
 
 
zu jenem aber wird von der Gerechtigkeit
 
 
nur ein sehr schmales Tor den Frommen aufgetan, 114Evangelium secundum Matthæum, cap. 7, v. 13 et 14: "Intrate per angustam portam: quia lata porta, et spatiosa via est, quæ ducit ad perditionem, et multi sunt qui intrant per eam. Quam angusta porta, et arcta via est, quæ ducit ad vitam: et pauci sunt, qui inveniunt eam!"
 
 
die durch ein ungestörtes Hoffen,
 
 
durch muntern Glaubenseifer,
 
 
durch reine Gottesliebe
 
 
sich mit Gewalt darum bestrebet haben,
 
 
die nur die Wege der Geboten
 
 
beherzt gegangen sind und ihrem Gott und Herrn
 
 
ihr ganzes Herze gaben.
 
 
Was haltest du hievon? Bekenne mir es frei,
 
 
ob noch dein zager Sinn auf Forcht und Zweifel denke?
 
 
Christ
 
 
Nun find ich mich der Ängsten los;
 
 
ich kenne allzu wohl der Welt verstellten Geist
 
 
und seiner Lehre böse Ränke:
 
 
Wie töricht, wie betäubt, wie blinde war ich doch?
 
 
Wie oft, wie lange hab ich mich
 
 
von ihme blenden lassen!
 
 
Ich hasste, was ich lieben –
 
 
und liebte, was ich sollte hassen.
 
 
Nun will ich lieben das, was Liebe würdig heißt:
 
 
Von dieser Liebe soll mich weder Glücke,
 
 
noch Trübsal, Schmerz und Leiden,
 
 
noch irgendein Geschöpfe scheiden. 115Epistola Pauli ad Romanos, cap. 8, v. 35: "Quis ergo nos separabit a charitate Christi? tribulatio? an angustia? an fames? an nuditas? an periculum? an persecutio? an gladius?"
 
 
Christengeist
 
 
Hast du so, wie ich seh, zum hohen Tugendbau
 
 
den festen Grund geleget,
 
 
so komme nun in jene wahre Schule,
 
 
wo man die höchste Lieb erlernet
 
 
zu üben, zu verstehen:
 
 
Dann wird die Glut, die schon in deiner Brust
 
 
zu glimmen scheint, in helle Flamme gehen.
 
 

Es erscheinet auf einem Hügel der Heiland an dem Kreuz und beiderseits auf den Wolken die göttliche Gerechtigkeit und Barmherzigkeit.
 
 

Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Christengeist, Christ.
 
 
Barmherzigkeit
 
 
Dein Bitten ist erhört, mein Sohn! Sei nun getrost,
 
 
der Herr verleiht dir Kraft und Schutz
 
 
und sorget deiner väterlich, 116Epistola Petri I, cap. 5, v. 7: "omnem solicitudinem vestram proiicientes in eum, quoniam ipsi cura est de vobis."
 
 
wer kann dir widerstehn? Er liebet dich, 117Epistola Pauli ad Romanos, cap. 8, v. 31: "Quid ergo dicemus ad hæc? si Deus pro nobis, quis contra nos?"
 
 
und zwar so ungemein, dass er durch seinen Tod
 
 
am harten Kreuzesholz, als einer Lehrerbühne,
 
 
dich selbst die Kunst der Liebe lehrt: 118Evangelium secundum Ioannem, cap. 3, v. 16: "Sic enim Deus dilexit mundum, ut Filium suum unigenitum daret: ut omnis, qui credit in eum, non pereat, sed habeat vitam æternam."
Epistola Pauli ad Philippenses, cap. 2, v. 8: "Humiliavit semetipsum factus obediens usque ad mortem, mortem autem crucis."
 
 
Ach! schaue mit Bedacht das große Beispiel an, 119Liber Exodus, cap. 25, v. 40: "Inspice, et fac secundum exemplar quod tibi in monte monstratum est."
 
 
es fodert deine Pflicht, es ist betrachtenswert.
 
 
Erwäge und entscheide,
 
 
wie viel, für wen und wer da leide.
 
     
 
    Ach! warum doch wollte sterben
 
 
für die schnöden Adams-Erben
 
 
dein vermenschter Gott und Herr?
 
 
Ach! er liebte allzu sehr. 120Epistola Pauli ad Ephesios, cap. 2, v. 4: "Deus autem, qui dives est in misericordia, propter nimiam charitatem suam, qua dilexit nos".
 
     
 
    Sieh! Er leidet, dich zu retten
 
 
aus den alten Sündeketten, 121Evangelium secundum Ioannem, cap. 3, v. 17: "Non enim misit Deus Filium suum in mundum, ut iudicet mundum, sed ut salvetur mundus per ipsum."
 
 
Geißel, Kreuz und Dörnerqual, 122Evangelium secundum Matthæum, cap. 20, v. 19: "et tradent eum Gentibus ad illudendum, et flagellandum, et crucifigendum, et tertia die resurget."
 
 
Marter, Peinen ohne Zahl.
 
 
Ach warum!
 
 
Christ
 
 
O Leid! O Schmerz! was seh ich hier?
 
 
Mein Schöpfer liebet mich, mich eitlen Sündenknecht!
 
 
Ich war bisher so oft ihm ungetreu,
 
 
und er, o Gütigkeit! und er verzeihet mir!
 
 
Ach! fließt, ihr Tränen! fließt; o Herze! brich entzwei.
 
 
Gerechtigkeit
 
 
Wie sehr gefällst du mir, nunmehr getreuer Sohn!Aufgrund der hier uneindeutigen Quelle kann dieser Vers auch folgendermaßen gelesen werden:
Wie sehr gefällst du mir nunmehr, getreuer Sohn!
 
 
Ich bin bereit, dich zu belohnen,
 
 
komm, so du willst, um deine Kron herbei.
 
 
Christ
 
 
Wie? Mich soll Lorbeer zieren,
 
 
da mein Erlöser hier sein Haupt mit Dörner deckt?
 
 
Nein: Strafe, nicht der Lohn will sich für mich gebühren.
 
 
Gerechtigkeit
 
 
O höchst beglückt und weiser Sinn,
 
 
der die Belohnung flieht in diesem Leben,
 
 
damit ihm werde dort gegeben
 
 
die Krone der Gerechtigkeit, 123Epistola Pauli ad Timotheum II, cap. 4, v. 8: "In reliquo reposita est mihi corona iustitiæ, quam reddet mihi Dominus in illa die iustus iudex: non solum autem mihi, sed et iis, qui diligunt adventum eius."
 
 
die allzeit unverweslich ist.
 
 
Barmherzigkeit
 
 
Wer schließet nicht hieraus, dass Liebe sei das Licht,
 
 
so brennet und zugleich erleuchtet,
 
 
da seiner Sinnen Aug allein auf Schätze sieht,
 
 
die keines Räuber Hand entführt, 124Evangelium secundum Matthæum, cap. 6, v. 20: "Thesaurizate autem vobis thesauros in cælo: ubi neque ærugo, neque tinea demolitur, et ubi fures non effodiunt, nec furantur."
 
 
wo doch die blöde Witz"Witz" ist hier mit "Vernunft, Verstand" gleichzusetzen, einer veralteten Bedeutung dieses Substantivs. Das maskuline Genus konnte sich erst zu Beginn des 18. Jhdts. vollständig gegenüber dem femininen durchsetzen. Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 30, Leipzig 1960, Sp. 861-888 (Art. "WITZ"); Dudenredaktion, Deutsches Universalwörterbuch, 7. Aufl., Mannheim/Zürich 2011, S. 2022 (Art. "Witz"). der laugesinnten Welt
 
 
nur falschen Güterschein für die Belohnung hält.
 
 
Christ
 
 
– Ich hab dich nicht geliebt, mein Heiland, Herr und Gott!
 
 
(wie betrachtend und für sich allein redend)
 
 
Beschämt erkenn ich meine Schuld.
 
 
Nun räche dich, hier schlage, brenne, schneide,
 
 
nur dort in Ewigkeit erzeige deine Huld;
 
 
schau meines Herzens Reu, mein Leid und meine Tränen,
 
 
schau mich verlornen Sohn, o Vater, gnädig an: 125Psalmus 37 (38), v. 18: "Quoniam ego in flagella paratus sum: et dolor meus in conspectu meo semper."
 
 
Doch nur darum, weil ich auf solche Weise
 
 
dich ewig, ewig lieben kann.
 
 
Lass doch, o liebenswertes Gut!
 
 
lass meine Seel und mein Gemüt
 
 
forthin nichts anders üben,
 
 
als dich allein, ach! dich alleine lieben.
 
     
 
    Oh! wie lange war ich blinde
 
 
in der Sünde!
 
 
Ich hab dich so oft betrübet,
 
 
so viel Böses ausgeübt:
 
 
Doch hast du mich schon geliebet, 126Epistola Ioannis I, cap. 4, v. 10: "In hoc est charitas: non quasi nos dilexerimus Deum, sed quoniam ipse prior dilexit nos, et misit Filium suum propitiationem pro peccatis nostris."
 
 
ich hab dich so spät geliebt. 127Sancti Augustini Confessiones, liber X, cap. 27 (38): "Sero te amavi, pulchritudo tam antiqua et tam nova, sero te amavi!"
Die Textwiedergabe und Zitierweise dieser Fußnote richtet sich, abgesehen von der Wiedergabe des Buchstaben "v", nach folgender kritischer Ausgabe: Augustinus (Sancti Augustini), Confessionum Libri XIII (Corpus Christianorum Series Latina XXVII), hrsg. von Lukas Verheijen, Turnholt 1981, S. 175.
 
     
 
    Ach! wie gerne will ich tragen
 
 
Kreuz und Plagen,
 
 
Krankheit, Elend, Hohn und Spott
 
 
wegen deiner, großer Gott!
 
     
 
    Oh! wie lange etc. 128Epistola Pauli ad Romanos, cap. 8, v. 36: "(sicut scriptum est: Quia propter te mortificamur tota die: æstimati sumus sicut oves occisionis)."
 
 
Gerechtigkeit
 
 
Ein so zerknürschter Geist, –
 
 
Barmherzigkeit
 
 
– der Buße schönste Frucht,
 
 
Gerechtigkeit
 
 
so heißer Tränen Menge
 
 
Barmherzigkeit
 
 
vergnüget meinen Wunsch, –
 
 
Gerechtigkeit
 
 
– erweichet meine Strenge.
 
 
Christengeist
 
 
Dem Schöpfer sei Lob, Ehr und Ruhm,
 
 
in dessen höchsten Namen
 
 
sich dieses Liebesfeur erhob.
 
 
Barmherzigkeit
 
 
Beglückte Brunst!
 
 
Gerechtigkeit
 
 
Erwünschte Flammen!
 
 
Barmherzigkeit
 
 
Dein Fleiß, o edler Tugendgeist!
 
 
hat sie befördert und ernährt.
 
 
Christengeist
 
 
Durch euer beiden Hilf und Gnade
 
 
ward ihre Kraft vollkommen und bewehrt. 129Psalmus 84 (85), v. 11: "Misericordia, et veritas obviaverunt sibi: iustitia, et pax osculatæ sunt."
 
 
Gerechtigkeit
 
 
O wenn die Menschen sollten
 
 
nach gleichen Liebesflammen streben,
 
 
anstatt in weichen Blumen
 
 
der lauen Zärtlichkeit zu leben,
 
 
so würde auch hingegen
 
 
in meinen Richterhänden
 
 
das Flammenschwert in Blumen sich verwenden. 130Prophetia Ieremiæ, cap. 18, v. 8: "Si pœnitentiam egerit gens illa a malo suo, quod locutus sum adversus eam: agam et ego pœnitentiam super malo, quod cogitavi ut facerem ei."
 
     
 
    Geschwärzter Wolken Hitze,
 
 
Wind, Hagel, Donner, Blitze
 
 
zerteilt in sanften Regen
 
 
der Klang von Glockenerz:
 
 
Auch so kann mich bewegen,
 
 
die Rach in Huld verkehren,
 
 
den Untergang verwehren
 
 
ein reuevolles Herz.
 
     
 
    Geschwärzter etc.
 
 
Christengeist
 
 
Seht nun, ihr Sterblichen! seht hier am Schädelberg
 
 
an eurem Heiland selbst der Liebe Vorbild an,
 
 
wie man den Geist der Welt, der durch das laue Tuen
 
 
so viele tausend Seelen
 
 
in das Verderben führt, verbannen muss und kann. 131Evangelium secundum Ioannem, cap. 13, v. 15: "Exemplum enim dedi vobis, ut quemadmodum ego feci vobis, ita et vos faciatis."
 
 
Ihr wisset aus dem Bibelgrund,
 
 
dass weder kalt' noch warme Herzen
 
 
sind gleich den ekelhaften Speisen,
 
 
der Schöpfer würft sie aus dem Mund: 132Apocalypsis Ioannis, cap. 3, v. 16: "sed quia tepidus es, et nec frigidus, nec calidus, incipiam te evomere ex ore meo."
 
 
Wer nicht mit Eifer, Müh und Fleiß
 
 
lauft nach den rechten Ziel, erlanget nicht den Preis. 133Epistola Pauli ad Corinthios I, cap. 9, v. 24: "Nescitis quod ii, qui in stadio currunt, omnes quidem currunt, sed unus accipit bravium? sic currite ut comprehendatis."
 
 
Ein Krieger, der im Streit nicht Mut und Stärke zeigt, 134Epistola Pauli ad Timotheum II, cap. 2, v. 5: "Nam et qui certat in agone, non coronatur nisi legitime certaverit."
 
 
verdienet nicht die Siegeskrone.
 
 
Der Seelenbräutigam verschließt dem Jungfernchor
 
 
das Tor der Hochzeit-Wohne;
 
 
warum? Sie hatten nur verschlafen,
 
 
der Ampeln Öl in Zeiten herzuschaffen. 135Evangelium secundum Matthæum, cap. 25, v. 10: "Dum autem irent emere, venit sponsus: et quæ paratæ erant, intraverunt cum eo ad nuptias, et clausa est ianua."
 
 
So wachet dann, bemüht, beeifert euch: 136Evangelium secundum Matthæum, cap. 25, v. 13: "Vigilate itaque, quia nescitis diem, neque horam."
Evangelium secundum Lucam, cap. 13, v. 24: "Contendite intrare per angustam portam: quia multi, dico vobis, quærunt intrare, et non poterunt."
 
 
Es kostet eure Seelen
 
 
ein unermessnen Wert, den Wert von Jesu Blut. 137Epistola Petri I, cap. 1, v. 18 et 19: "Scientes quod non corruptibilibus auro, vel argento redempti estis de vana vestra conversatione paternæ traditionis: sed pretioso sanguine quasi agni immaculati Christi, et incontaminati".
 
 
Verkehret mit Gewalt das Eis in helle Glut;
 
 
ach! lernet Gott nach euren Pflichten lieben,
 
 
denn dieses ist allein die Kunst,
 
 
die euch vor ihm gerecht und heilig macht.
 
 
Ohn dieser ist all' andrer Tugendschein
 
 
nur Schatten, Nebel, Rauch und Nacht. 138Epistola Pauli ad Ephesios, cap. 3, v. 18 et 19: "ut possitis comprehendere cum omnibus sanctis, quæ sit latitudo, et longitudo, et sublimitas, et profundum: scire etiam supereminentem scientiæ charitatem Christi, ut impleamini in omnem plenitudinem Dei."
 
 
Zu solchem Ende lasst vor allen Dingen
 
 
sein erst' und größtes Hauptgebot
 
 
für euch das erst' und größte sein
 
 
all' anderer Geschäften: 139Evangelium secundum Lucam, cap. 10, v. 42: "Porro unum est necessarium. Maria optimam partem elegit, quæ non auferetur ab ea."
 
 
Liebt ihn aus ganzer Seel, Gemüte, Herz und Kräften.
 
 
Christ, Christengeist, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, samt einem Chor eifriger Christen
 
     
 
    Heiland! Schöpfer! Herr und Gott!
 
 
Du hast dich zum Lehremeister
 
 
höchster Liebe dargestellt,
 
 
dein so schmerzenvoller Tod
 
 
sei zum Schrecken lauer Geister,
 
 
die nur lieben diese Welt. 140Evangelium secundum Lucam, cap. 2, v. 34: "Et benedixit illis Simeon, et dixit ad Mariam matrem eius: Ecce positus est hic in ruinam, et in resurrectionem multorum in Israel: et in signum, cui contradicetur".
 
 
Barmherzigkeit, Gerechtigkeit
 
     
 
    Wohl dem, der das Gebot der Liebe
 
 
mit Fleiß zu üben ist bedacht; 141Liber Ecclesiastici, cap. 3, v. 4: "Qui diligit Deum, exorabit pro peccatis, et continebit se ab illis, et in oratione dierum exaudietur."
 
 
weh dem, der sich derselben Triebe
 
 
aus Trägheit nicht zunutzen macht. 142Epistola Pauli ad Corinthios I, cap. 16, v. 22: "Si quis non amat Dominum nostrum Iesum Christum, sit anathema, Maran Atha."
 
     
 
    Heiland! Schöpfer etc.
 
 
Alles zur Ehre GottesDie (hier aufgelöste) Abbreviatur "A. Z. E. G." ist eine Verkürzung von "A. Z. G. E. G.", das für "Alles zu größerer Ehre Gottes" steht. Bei dieser Formel handelt es sich um die deutsche Übersetzung von "Omnia ad maiorem Dei gloriam", dem lateinischen Leitspruch der Jesuiten. Der deutsche Wortlaut ist seit Mitte des 18. Jhdts. als Schlussarabeske geistlicher Druckwerke aus dem Umkreis des Ordens nachweisbar, die lateinische Floskel bzw. die entsprechende Abkürzung "O. A. M. D. G." schon vor 1600. Vgl. u.a. Kurt Adel, Das Jesuitendrama in Österreich, Wien 1957, S. 6.