Kritische Edition des Librettos       Diplomatische Übertragung des Librettos 

Die Schuldigkeit des ersten und fürnehmsten Gebotes


Evangelium secundum Marcum, cap. 12, v. 30:

"Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzen deinem Herzen, von deiner ganzen Seel, von deinem ganzen Gemüt und aus allen deinen Kräften."
Die entsprechende Stelle lautet in der Vulgata: "et diliges Dominum Deum tuum ex toto corde tuo, et ex tota anima tua, et ex tota mente tua, et ex tota virtute tua. Hoc est primum mandatum." Zitiert nach: Michael Hetzenauer (Hrsg.), Biblia Sacra Vulgatae Editionis, 3. Aufl., Regensburg 1929.


In dreien Teilen zur Erwägung vorgestellt von I. A. W.


Erster Teil in Musik gebracht von Herrn Wolfgang Motzard, alt 10 Jahr.

Zweiter Teil von Herrn Johann Michael Heiden, hochfürstlichem Konzertmeistern.

Dritter Teil von Herrn Anton Cajetan Adlgasser, hochfürstlichem Kammerkomponisten und Organisten.


Salzburg, gedruckt bei Johann Joseph Mayrs, Hof- und akademischen Buchdruckers und Buchhandlers selig, Erbin, 1767.
 
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Die Schuldigkeit

Des ersten und fürnehmsten Ge=

bottes Marc. 12. V. 30.

Du sollst den HErrn, deinen GOtt lieben von ganzen
deinem Herzen, von deiner ganzen Seel, von dei=
nem ganzen Gemüth, und aus allen
deinen Kräften.

In dreyen Theilen

zur Erwegung vorgestellt

von I. A. W.

Erster Theil in Musik gebracht von Herrn Wolfgang
Motzard, alt 10. Jahr.


Zweyter Theil von Herrn Johann Michael Heiden, Hoch=
fürstl. Concertmeistern.


Dritter Theil von Herrn Anton Cajetan Adlgasser, Hoch=
fürstl. Kammer=Componist= und Organisten.



SALZBURG,

Gedruckt bey Johann Joseph Mayrs, Hof= und Akade=
mischen Buchdruckers, und Buchhandl. sel. Erbinn, 1767.



Das Ort der Vorstellung ist eine anmütige Gegend an einem Garten und kleinen Wald.


Singende

Ein lauer und hienach eifriger Christ: Herr Joseph Meisner.
Der Christengeist: Herr Anton Franz Spitzeder.
Der Weltgeist: Jungfer Maria Anna Fesemayrin.
Die göttliche Barmherzigkeit: Jungfer Maria Magdalena Lippin.
Die göttliche Gerechtigkeit: Jungfer Maria Anna Braunhoferin.


NBNota bene: Die nach diesem Zeichen " stehenden Zeilen reden die Personen für sich allein.Anführungszeichen, die "für sich allein" kennzeichnen, sind in der kritischen Edition durch Klammern ersetzt. Die Klammern ohne weitere Anweisung können sowohl "beiseits" (modern: "beiseite") als auch "für sich" bedeuten.
 


F
Das Ort der Vorstellung ist eine

anmüthige Gegend an einem Garten


und kleinen Wald:


Singende:

Ein lauer und hinnach eifriger Christ: Herr
Joseph Meisner.


Der Christen=Geist: Herr Anton Franz Spitze=
der.


Der Welt=Geist: Jungfer Maria Anna Fese=
mayrin.


Die göttliche Barmherzigkeit: Jungfer Maria
Magdalena Lippin.


Die göttliche Gerechtigkeit: Jungfer Maria
Anna Braunhoferin.



NB. Die nach diesem Zeichen " stehenden Zeilen reden die Personen
für sich allein.



Vorbericht


Dass kein gefährlicherer Seelenstand sei als die Lauigkeit in dem Geschäfte des Heils, versichert uns die göttliche Wahrheit in der heimlichen Offenbarung Iohannis, cap. 3, v. 15 et 16 mit den Worten: "Wollte Gott, dass du kalt oder warm wärest; dieweil du aber lau bist und weder kalt noch warm, will ich anfangen, dich auszuspeien aus meinem Mund."Die entsprechende Stelle lautet in der Vulgata: "[Scio opera tua: quia neque frigidus es, neque calidus:] utinam frigidus esses, aut calidus: sed quia tepidus es, et nec frigidus, nec calidus, incipiam te evomere ex ore meo." Zitiert nach: Michael Hetzenauer (Hrsg.), Biblia Sacra Vulgatae Editionis, 3. Aufl., Regensburg 1929. Dieser so wichtige und einer reiferen Erwägung allzu würdige Ausspruch gabe Anlass zu gegenwärtiger musikalischen Vorstellung, wodurch man zwar nicht bloß die Sinne zu ergötzen (als welches keineswegs das rechte Ziel eines geistlichen Singspieles ist), sondern das Gemüt nutzlich zu unterhalten gedenket.

Solchemnach, nicht allein die bestimmte Kürze beizubehalten, sondern auch geflissentlich mehr auf die Art einer nutzbringenden Betrachtung als auf die komischen Verlängerungs-Zierraten bedacht zu sein, stellet man hierinnen einen zwar anfangs lauen, nach den erkannten falschen Lehrsätzen aber des Weltgeistes gelehrsamen und zur Tugend wohlgeneigten Christen vor.

 
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Vorbericht.


     DAs kein gefährlicherer Seelenstand sey als die
Lauigkeit in dem Geschäfte des Heils, ver=
sichert uns die göttliche Wahrheit in der heim=
lichen Offenbarung Joann 3. v. 15. & 16.
mit den Worten: Wollte GOtt, daß du kalt
oder warm wärest: dieweil du aber lau bist,
und weder kalt noch warm, will ich anfangen
dich auszuspeyen aus meinem Mund.
Dieser
so wichtige und einer reifferen Erwegung allzuwür=
dige Ausspruch gabe Anlaß zu gegenwärtiger musica=
lischen Vorstellung, wodurch man zwar nicht blos
die Sinne zu ergötzen (als welches keinesweegs das
rechte Ziel eines geistlichen Singspieles ist) sondern
das Gemüth nutzlich zu unterhalten gedenket.


     Solchemnach, nicht allein die bestimmte Kürze
beyzubehalten, sondern auch gefliessentlich mehr auf
die Art einer Nutzbringenden Betrachtung, als auf
die comischen Verlängerungs=Zierraden bedacht zu
seyn, stellet man hierinnen einen zwar Anfangs lauen,
nach den erkannten falschen Lehrsätzen aber des Weltgei=
Fstes, gelehrsamen und zur Tugend wohlgeneigten Chri=
sten vor.


     In dem ersten Theil wird die Gedächtnuß und der
Verstand desselben durch den unermüdeten und Liebes=
vollen Eifer des Christlichen Tugendgeistes unter dem
Beystand göttlicher Barmherzigkeit und Gerechtigkeit
beschäftiget: in dem zweyten Theil der Verstand besie=
get, nicht weniger auch der Will zur Ergebung be=
reit gemacht, und endlichen dieser in dem dritten Theil
von der ihme noch anklebenden Forcht und Wankel=
muth vollkommen befreyet und gewonnen.


     Für den verhoften geistlichen Nutzen werden die ver=
schiedenen darinn vorkommenden Erinnerungen Gelegen=
heit geben unter andern haubtsächlich zu erwegen: daß
zur Verbesserung der Lauigkeit und zur geschwinderen
Erkänntniß der so schädlichen Irrlehre des Weltgei=
stes, vor allem, nebst der allzeit nothwendigen gött=
lichen Gnad, erfordert werde ein demüthig=leitsames
Gemüth, und sodann eine aufrichtig=eifrige Erfüllung
der unentbehrlichen Schuldigkeit: GOtt, zu folge
des ersten und fürnehmsten Gebottes, aus gan=
zem Herzen, Gemüth, Seel, und allen
Kräften zu lieben.
In dem ersten Teil wird dieGedächtnus und der Verstand desselben durch den unermüdeten und liebesvollen Eifer des christlichen Tugendgeistes unter dem Beistand göttlicher Barmherzigkeit und Gerechtigkeit beschäftiget; in dem zweiten Teil der Verstand besieget, nicht weniger auch der Will zur Ergebung bereit gemacht, und endlichen dieser in dem dritten Teil von der ihme noch anklebenden Forcht und Wankelmut vollkommen befreiet und gewonnen.

Für den verhofften geistlichen Nutzen werden die verschiedenen darin vorkommenden Erinnerungen Gelegenheit geben, unter andern hauptsächlich zu erwägen, dass zur Verbesserung der Lauigkeit und zur geschwinderen Erkenntnis der so schädlichen Irrlehre des Weltgeistes vor allem, nebst der allzeit notwendigen göttlichen Gnad, erfordert werde ein demütig-leitsamesDas nicht mehr gebräuchliche Adjektiv "leitsam" bedeutet so viel wie "leitbar". Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, Leipzig 1885, Sp. 739 (Art. "LEITSAM"). Gemüt und sodann eine aufrichtig-eifrige Erfüllung der unentbehrlichen Schuldigkeit: Gott, zufolge des ersten und fürnehmsten Gebotes, aus ganzem Herzen, Gemüt, Seel und allen Kräften zu lieben.
 

     In dem ersten Theil wird die Gedächtnuß und der
Verstand desselben durch den unermüdeten und Liebes=
vollen Eifer des Christlichen Tugendgeistes unter dem
Beystand göttlicher Barmherzigkeit und Gerechtigkeit
beschäftiget: in dem zweyten Theil der Verstand besie=
get, nicht weniger auch der Will zur Ergebung be=
reit gemacht, und endlichen dieser in dem dritten Theil
von der ihme noch anklebenden Forcht und Wankel=
muth vollkommen befreyet und gewonnen.


     Für den verhoften geistlichen Nutzen werden die ver=
schiedenen darinn vorkommenden Erinnerungen Gelegen=
heit geben unter andern haubtsächlich zu erwegen: daß
zur Verbesserung der Lauigkeit und zur geschwinderen
Erkänntniß der so schädlichen Irrlehre des Weltgei=
stes, vor allem, nebst der allzeit nothwendigen gött=
lichen Gnad, erfordert werde ein demüthig=leitsames
Gemüth, und sodann eine aufrichtig=eifrige Erfüllung
der unentbehrlichen Schuldigkeit: GOtt, zu folge
des ersten und fürnehmsten Gebottes, aus gan=
zem Herzen, Gemüth, Seel, und allen
Kräften zu lieben.